Literaturgefluester

2015-10-10

Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

„Es beginnt mit einer Verfolgungsjagd eines Heißluftballons!“, hat Angelika Reitzer vorige Woche bei der Präsentation von Clemens J. Setz tausendseitigen, leider nur Longlist-Buchs gesagt und das ist nicht ganz richtig, denn der Taxifahrer, von dem Natalie will, daß er  das tun soll, weigert sich, diesen unmöglichen Auftrag anzunehmen.

„Ich bringe Sie gerne an das Ende der Stadt oder wohin Sie wollen, aber das kann ich nicht!“

Das ist wahrscheinlich auch eine Charakterisierung des tausend Seiten Wälzers, in der sehr wohl Unmögliches und noch viel mehr geschieht und wenn ich mich nicht irre, habe ich auch irgendwo gelesen, daß das einer der beeindruckensten Buchanfänge ist.

„Folgen Sie diesem Heißluftballon!“

Egal, Natalie Reinegger ist jedenfalls einundzwanzig, ehemalige Epileptikerin, die immer noch die „aurigen Gefühle“ verfolgt, die einen Grand Mal ankündigen. Sie lebt in Graz, der Heimatstadt des 1982 geborenen  Shootingstars und literarischen Wunderkinds Setz und sie hat ihre einjährige Ausbildung zur Behindertenbetreuerin erfolgreich abgeschloßen.

Deshalb gibt „Red Bull“ oder sonst wer eine Heißluftballonparty für die Absolventen. Natalie hat blöderweise in der Nacht davor zuviel Beruhigungspillen genommen und verschlafen, so versäumt sie diesen Beginn.

Sie hat aber schon eine Stelle in einem privaten betreuten Wohnheim, dort hat sie eine zweiwöchige Probezeit absolviert, ja wir leben in Zeiten, wo wir sparen und alles schnell gehen muß und so teilt sie sich alsbald mit drei Betreuerinnen zwei Stellen.

Sie bekommt auch zwei Bezugsklienten, einer heißt Mike und  hat ein Schädelhirntrauma, seither ist er von seiner Frau getrennt und malt schreckliche Sachen in sein Zimmer, die die Betreuer dann wegwischen müßen.

Der zweite heißt Alexander Dorm und sitzt im Rollstuhl, warum habe ich nicht herausgekommen. Es scheint aber auch nicht wichtig zu sein. Er ist jedenfalls homosexuell, haßt die Frauen und ist ein Stalker und hat die Frau seines Opfers Dr. Hollberg in den Selbstmord getrieben.

So weit realistisch und gut nachzuvollziehen. Dorm wird aber jede Woche von Hollberg besucht und Natalie, die Bezugsklientin oder Bezugerin, wie sie Dorm beschimpft, der mit ihrer knabenhaften Figur nicht viel anfangen kann, muß mitgehen und seine sadomasochistischen Versuche Dorm aus seiner Hand tote Mäuse fressen zu lassen, mitverfolgen.

Es passiert noch viel viel mehr Surrealistisches und Reales, denn Hollberg tritt ihr mit Billigung oder auch ausdrücklicher Duldung der Heimleitung, bezahlt vielleicht er den Betreuungsplatz, zu nahe, zeigt ihr Fotos, steht in ihrem Garten, verlangt von ihr Gespräche etcetera, die bei Natalie zu Haßgefühlen, Panikattacken und auch dazu führen, daß sie selber ihn verfolgt und man weiß nicht recht, wird sie jetzt wahnsinnig oder ist man in einem trivialen Krimi, beziehungsweise Science Fiction Roman, denn, das habe ich jetzt, wie noch tausend anderes vergessen, Natalie ist ein Stephen King Fan.

Sie folgt ihm jedenfalls auf den Friedhof, Hollberg geht nach jedem seiner Besuche dorthin und heuert auch einen seltsamen Obdachlosen, den sie im „Openspace“, einem Lokal, in dem sie ihre Freizeit verbringt, an, ihn zu verfolgen.

Bis zur Lesung vor einer Woche, war ich bei Seite hundert. Bis dahin habe ich das Buch total realistisch gelesen, denn ich bin ja Psychologin und Psychotherapeutin vom Brotberuf und habe mich auch schon literarisch öfter mit überforderten Jugendlichen, Borderliners, etcetera, beschäftigt und Natalie ist eine Borderlinerin, na klar, obwohl nicht sie sich schneidet, sondern die andere Betreuerin B.

Ich bin auch sicher, daß man viele solcher Betreuerinnen in betreuten Wohnheimen finden kann und  bin auch die Mutter einer Behindertenbetreuerin, die mir wahrscheinlich bis zu achtzig Prozent ähnliche Geschichten erzählen könnte, die Sci Fi Bezüge ausgenommen natürlich, wie ich hoffen würde.

Dann gibt es aber auch die Vergleiche zu James Joyce und seinem „Ullysses“ und die Tatsache, das Natalie auch Synäthesistin ist, sie sieht Farben zu den Worten, das ist Clemens J. Setz, wie ich hörte und las, auch und beide sind wahrscheinlich hochintelligent.

Natalie wird das von den Kritikern bescheinigt und Clemens J. Setz wurde in einem Interview gefragt, ob er ein Außenseiter ist, was er erfolgreich abwehrte.

„Wie kommen Sie darauf, nur weil ich mit mir selber spreche, das tun doch viele!“

Ja, die zweite Ebene sind die übersprudelnden Phanatasien von denen Clemens J. Setz bei der Lesung einige Beispiel gab.

Da setzt Nataie zum Beispiel Phantasiemäuse auf ihre Schultern, um sich dadurch zu entspannen. Setz tut das auch, ich würde meinen, daß ich mich mehr anspanne, wenn ich  den ganzen Tag aufpassen muß, daß die Maus nicht herunterfällt.

Sie führt mit ihrem Ex-Freund Markus auch „Non sequitur“ Gespräche und ihr Bruder Karl der in Dänemark lebt, führte gerne „karleske Redewendungen“ mit denen macht Natalie dann in der Freizeit, in denen sie „streunen“ geht, die Männer fertig von denen sie sich vorher oral befriedigen läß.

Es gibt auch endlos absurd scheinende Einfälle in dem Buch, manche sind ziemlich beklemmend, zum Beispiel, wenn sie sich vorstellt, was mit Mikes Hirnmasse geschah, die bei seinem Unfall austrat oder auch die, wo sie ein Spielzeugauto, das Hollberg Dorm zum Geburtstag schenkte, klaut, mit nach Hause nimmt und in der Wohnung einen Stock unter ihr, wo Kinder wohnen, aussetzt. Die Fernbedienung nimmt sie mit und macht sie an. Das Auto rast dann in der Wohnung unten herum und in einer anderen Nachbarwohnung läutet öfter ein altes Telefon und irgendwann spaziert dann der Nachbar mit dem Telefon die Stufen herunter.

Wir leben ja auch in einer hochexplosiven Zeit, so muß in Natalies Wonung immer der Fernseher laufen und sie stellt sich vor, wie das ist, wenn alle Radios auf einmal an sind?

Schöne neue überforderte Welt, in der wir und wahrscheinlich noch mehr Leute, die dreißig Jahre jünger sind als ich, schon drin sind. Natalie macht ständig Aufnahmen mit ihrem Handy, nimmt Gespräche, aber auch ihre Schmatzgeräusche auf und stellt sie wahrschein ins Internet, etc.

Im Epilog sind wir überhaupt schon in der Zukunft, wo man von seinen Peers ständig überwacht wird und es kein Echtgeld mehr gibt und das Buch endet, um nicht zuviel zu verraten, es ist ja ein Rezensionsexemplar, wofür ich „Suhrkamp“ herzlich danke mir mein LL-Lesen zu ermöglichen, irgendwie so ähnlich, wie John Katzenbach „Der Professor“.

Natalie ist jedenfalls nicht mehr im Wohnheim, sondern studiert Medizin und nein, sie bringt niemanden um, weder aus Mitleid noch sonstwie.

Sechs bis acht Wochen hat mir der „Suhrkamp-Verlag“ Lesezeit gegeben. Ich habe es in einer konzentrierten Woche, immer hundert Seiten in der Badewanne geschafft und es war lange nicht so schwer zu lesen, wie der Zaimoglu und ich bin auch eine geübte Leserin.

Wenn man aber auf die „Amazon-Seite“ geht, kann man merken, daß sich die Leser schwer tun mit dem Monsterwerk, von dem sie beispielsweise behaupten, daß man es nicht nacherzählen könne und, daß es keine Handlung hat.

Es ist Setz linearstes Buch, habe ich dagegen irgendwoanders gelesen.

Die „Amazon Leser“ waren aber meistens bei Seite hundert, dreihundert etc und mit den tausend Seiten wahrscheinlich überfordert, allerdings gab es bei den Kommentaren immer einen, der das dann rügte und wenn man zu den Experten des Schweizer Literaturclubs geht, merkt man, daß die in den Klischees steckenbleiben.

„Wir sind in der Klapsmühle, Natalie ist die irrste Protagonistin, der ich je begegnet bin, das Buch setzt uns den Spiegel vor und man fragt sich wer sind die Verrückten?“

Nicht wir, sondern die Gesellschaft, würde ich hier antworten und Richard Kämmerling hat, als der Roman nicht auf die Shortlist kam, zu einem Jurorenrundumschlag ausgeholt.

Die soll zurücktreten, hat er gefordert, wenn sie nicht die Qualität des Buchs begreift und nach mehr Kritikern statt Buchhändlern und Musikern verlangt.

Dem würde ich ich mich nicht anschließen, obwohl das Buch auch auf meine Shortlist kommt und ich die Anna fragen werde, ob sie es zu Weihnachten haben will? Weil ja interessant ist, wie das  eine dreißigjährige Behindertenbetreuerin, die sicher auch öfter von ihrem Beruf überfordert ist, empfindet.

Daß es nicht auf die Shortlist und daher auch nicht zum dBp kommt, würde ich mir durch die oben beschriebene Überforderung der Leserschaft oder der Angst davor erklären.

Denn wer liest in Zeiten wie diesen, wo das Lesen ja schon bald zu einem Luxusgut wird, wirklich noch tausend Seiten, obwohl es, wie ich wiederholen möchte, leicht und auch spannend zu lesen ist.

Einiges davon ist wahrscheinlich wirklich so Einzigartig und Ungewöhnlich, wie es „Ullysses“ zu seinen Entstehunszeiten war, für die Leute wahrscheinlich, für die eine Psychiatrie oder ein betreutes Wohnheim noch immer eine „Klapsmühle“ ist und eine F60 Person, wie die Natalie, die ärgste Irre aller Zeiten.

Es gibt auch zur Unterstützung und als Lesehilfe das „Betreute Lesen“, wenn das wahrscheinlich auch mehr als ein Projekt des Social Readings oder des E-Books Lesen zu verstehen ist.

Ich hab da schon mehrmals kommentiert und auch Antworten bekommen.

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